Ein Zuhause fürs Leben: Warum ein Ehepaar seit mehr als 60 Jahren in derselben Wohnung lebt

Sascha Priesemann

Sascha Priesemann

Magazin-Redakteur bei Gundlach

Sie wollten nie wegziehen: Julius und Ursula Sierig leben seit mehr als 60 Jahren in ihrer Mietwohnung in Hannover-Ahlem. Einst wohnten sie hier mit ihren vier Kindern auf 66 Quadratmetern.

„Hier zu wohnen, ist einfach toll", sagt Julius Sierig, als er vom Wohnzimmer auf Bäume und die Wiese vor seinem Balkon blickt. Zusammen mit seiner Frau Ursula lebt der 87-Jährige jetzt schon mehr als 60 Jahre in seiner Gundlach-Mietwohnung in Ahlem. "Wir wollten nie hier weg, auch wenn uns einige Freunde für verrückt erklärt haben", bekräftigt der Senior.

Mit sechs Menschen auf 66 Quadratmeter

Am 15. Juli 1962 unterschrieb er den Mietvertrag. 144,67 D-Mark betrug damals die Miete für die Drei-Zimmer-Wohnung. Den alten Vertrag haben sie aufgehoben – ohne Falte, ohne Fleck. „Da habe ich drauf aufgepasst, einige Regeln sind für uns ja heute noch gültig", sagt Julius Sierig und lacht. Kurios: der Absatz über von der ­„Damenschuhindustrie auf den Markt gebrachte Damenschuhe". Demnach sollen die Sierigs aufpassen, dass niemand die Schuhe mit den spitzen Absätzen in der Wohnung trägt.

 

Dass die Räume keinen Schaden nehmen, darauf haben die Sierigs geachtet. Nicht ein Staubkorn ist zu sehen. Bis auf wenige Ausnahmen sehe es noch so aus wie vor 60 Jahren, erzählt Sierig: „Diese Wohnung hatte für damalige Verhältnisse eine Spitzen-Aufteilung mit dem großen Wohnzimmer." Als die beiden einzogen, stand noch das Gerüst am Haus. Es war gerade erst gebaut worden. „Unsere erste Wohnung in Oberricklingen war zu klein für uns und die Zwillinge", erinnert sich Ursula Sierig. Die neue Wohnung brachte es auf mehr als 66 Quadratmeter. Als später noch zwei weitere Kinder hinzukamen, wurde es auch hier eng. Doch die ­Sierigs nutzten jeden Millimeter Platz, ließen sich von einem Tischler eigens Möbel anfertigen. Im früheren Kinderzimmer schliefen alle vier Mädchen auf zwei Etagenbetten. „In Ahlem gab es alles, was wir brauchten. Wir waren einfach glücklich hier", sagt Ursula Sierig.

Wohnung fürs Leben in Ahlem

Besonders gut gefiel ihnen die Gemeinschaft im Haus. Fast alle neuen Bewohnerinnen und Bewohner waren in ihrem Alter. Am Wochenende trafen wir uns oft zum Sekt-Frühstück. „Wir saßen dann oft noch abends zusammen", erinnert sich Sierig. Viele kleine VW-Bullis auf den Schränken erinnern an Julius Sierigs Arbeit im VW-Werk in Stöcken. Seit mehr als 30 Jahren genießt er nun schon den Ruhestand. An den Wänden hängen Bilder der Familie – auch die der fünf Urenkel. „Wir wollen noch sehen, wie sie alle eingeschult werden", sagt ­Ursula Sierig. Sie kam nach dem Zweiten Weltkrieg als Geflüchtete aus Schlesien nach Niedersachsen. Julius lebte lange in der DDR. Wenige Jahre vor dem Mauerbau kam er nach Hannover, wo sich beide zufällig trafen. Die beiden verliebten sich und heirateten 1960. Ihre Wohnung fürs Leben haben sie in Ahlem gefunden.

Der Text erschien im Herbst 2022 in unserer Mieter:innenzeitung „Gundlach Nachbarn".